Als bisher stärkster Ratsfraktion steht der SPD im Hans-Sachs-Haus, dem Rathaus von Gelsenkirchen, der große Sitzungssaal für ihre Wahlparty zu. Doch als sich dort am späten Sonntagnachmittag die ersten Genossen einfinden, ist die Stimmung gedämpft. Was, wenn der AfD gelingt, was sie im Februar bei der vorgezogenen Bundestagswahl gelang? Mit 24,7 Prozent – ihrem besten nordrhein-westfälischen Zweitstimmenwert – verwies sie die SPD in Gelsenkirchen knapp auf Platz zwei.
Um Punkt 18 Uhr am Sonntag veröffentlicht der WDR seine erste landesweite Prognose, die in ihrer Grundtendenz von den weiteren Hochrechnungen bestätigt wird. Demnach muss die SPD damit rechnen, ihr bisher historisch schlechtestes Ergebnis von vor fünf Jahren noch einmal zu unterbieten. Auf etwas mehr als 24 Prozent waren die Sozialdemokraten 2020 landesweit gekommen, nun werden für sie zwischen 22 und 23 Prozent prognostiziert.
Die CDU dürfte ihren bisher schlechtesten Kommunalwahlwert mit 34 Prozent in etwa halten. Es ist ein Wahlsieg für die Christdemokraten, wenn auch ein unspektakulärer, denn verbessert wird das enttäuschende Ergebnis von 2020 nicht merklich. In der Fläche allerdings ist die CDU weiterhin die mit Abstand stärkste Kraft im Land, in den Universitätsstädten zeichnen sich Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Grünen ab.
Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) am Sonntagabend bei der Wahlparty in Düsseldorfdpa
Während Paul Ziemiak, der Generalsekretär der NRW-CDU, von einem großen Erfolg spricht, zeigt sich Landesparteichef und Ministerpräsident Hendrik Wüst in einem ARD-Interview wenig euphorisch. „Dieses Ergebnis muss uns zu denken geben, kann uns auch nicht ruhig schlafen lassen. Selbst meine Partei nicht, die diese Wahl so klar gewonnen hat“, sagt Wüst. Dass die AfD ihr Ergebnis im Vergleich zu den vergangenen Kommunalwahlen voraussichtlich mehr als verdreifacht habe, stelle alle demokratischen Parteien vor Herausforderungen.
Kandidatenmangel bei der AfD
Tatsächlich kann sich die AfD diesmal als eigentliche Gewinnerin der nordrhein-westfälischen Kommunalwahlen fühlen: Laut Hochrechnung kommt sie auf etwas mehr als 15 Prozent. Im Vergleich zu 2020 hat sie sich damit verdreifacht. Auf lediglich 5,1 Prozent war die Partei bei den vergangenen Kommunalwahlen im bevölkerungsreichsten Bundesland gekommen. Der Zuwachs ist umso bemerkenswerter, als die AfD – vor allem wegen akuten Kandidatenmangels – nur in etwas mehr als 60 Prozent der kreisangehörigen Gemeinden zu den Ratswahlen angetreten war.
Und nur in 23 Prozent der kreisangehörigen Gemeinden trat sie mit einem eigenen Kandidaten für das Bürgermeisteramt an. Umso mehr schien sich die Partei auf Kommunen vor allem im einstmals von der SPD dominierten Ruhrgebiet zu konzentrieren, in denen sie schon bei der vorgezogenen Bundestagswahl im Februar besonders gut abgeschnitten hatte.
Der Fokus liegt auf Gelsenkirchen
Besonders wichtig ist offensichtlich nicht nur aus sozialdemokratischer Perspektive Gelsenkirchen: Am Sonntagabend ist der Medienrummel im Hans-Sachs-Haus groß. Korrespondenten vieler überregionaler Zeitungen sind ebenso angereist wie zahlreiche Fernsehteams.
Im mittlerweile vollen Gelsenkirchener Ratssaal ist die Stimmung unter den Genossen nun bei Currywurst und kühlem Bier erstaunlich aufgeräumt. Noch liegen die ersten Ortsergebnisse nicht vor. Den Landesprognosewert für seine Partei schätzt der Gelsenkirchener SPD-Fraktionsvorsitzende Axel Barton nüchtern ein. „Wer in den vergangenen Wochen auf den Straßen unterwegs war und mit den Bürgern gesprochen hat, musste mit einem weiteren Verlust rechnen.“ Mit Blick auf Gelsenkirchen ist Barton optimistisch. Vor fünf Jahren habe die Gelsenkirchener SPD deutlich über dem Landesschnitt gelegen. „So wird es diesmal wieder werden.“
Das Problem ist nur: Als um kurz vor 19 Uhr 39 der 209 Stimmbezirke ausgezählt sind, liegt die AfD mit etwas mehr als 36 Prozent mehr als sechs Punkte vor den Sozialdemokraten. Während weiter ausgezählt wird, schmilzt der Vorsprung der AfD in Trippelschritten. Bei ihrer Wahlparty verzichten die Genossen noch bis 19.30 Uhr darauf, das Zwischenergebnis auf die Leinwand zu projizieren – sie zeigen lieber die Grafik für die Oberbürgermeisterwahl, auf der der rote Balken der höchste ist.
Ein Kopf-an-Kopf-Rennen
Vor wenigen Jahren noch war auch das von Strukturwandel, Arbeitsplatzverlusten und Armutsmigration aus Südosteuropa gezeichnete Gelsenkirchen für die Sozialdemokraten eine sichere Bank, regelmäßig erreichten sie bei Wahlen mehr als 50 Prozent. Diese Zeiten sind vorbei. Im Februar konnte der SPD-Kandidat zwar sein Gelsenkirchener Bundestagsdirektmandat gegen seinen Konkurrenten von der AfD verteidigen. Doch bei den Zweitstimmen verdrängte die in Teilen rechtsextreme Partei die Sozialdemokraten knapp von Platz eins.
Am Sonntag will die AfD die Sozialdemokraten in Gelsenkirchen gleich zweifach überflügeln: Im Rat will sie die meisten Sitze erringen, und sie will mit dem biederen Finanzberater Norbert Emmerich – zu dessen Wahlkampfendspurt Parteichefin Alice Weidel am Donnerstag überraschend noch angereist kam und sich für die Kameras über die Gelsenkirchener Zustände empörte – den Oberbürgermeister stellen. Auf diese Wahl konzentriere sich die Gelsenkirchener AfD, wie Enxhi Seli-Zacharias sagt, die im Gelsenkirchener Rat sitzt und stellvertretende Vorsitzende der AfD-Fraktion im Landtag ist. Auf die 18-Uhr-Prognose und den starken landesweiten Zuwachs ihrer Partei reagiert sie im kleinen Kreis vor Parteifreunden am Sonntagabend im Gelsenkirchener Rathaus zunächst seltsam verhalten. Einige Minuten später sagt sie, dass sie sich „riesig“ freue. Für die AfD gehe es auch darum, zu zeigen, dass sie ihre Wählerschaft „zementiert“ habe. „Es ist nicht mehr ein reines Frustwählen.“
Enxhi Seli-Zacharias und Norbert Emmerich auf der AfD-Wahlparty in GelsenkirchenReuters
Bei der Ratswahl vor fünf Jahren war die AfD in der Ruhrgebietskommune auf 12,9 Prozent der Stimmen gekommen, die SPD hatte mehr als 15 Punkte verloren, wurde aber mit 35,1 Prozent dennoch stärkste Kraft. Wegen des insgesamt schwachen Ergebnisses wäre es für die Sozialdemokraten umso wichtiger, möglichst viele „ihrer“ Städte zu halten. Von großer Bedeutung ist dabei nicht nur Gelsenkirchen, sondern das Ruhrgebiet insgesamt, also auch Großstädte wie Duisburg und Dortmund. Die dortigen sozialdemokratischen Oberbürgermeister Sören Link und Thomas Westphal traten wieder an. Wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale liegen beide vorne – und müssen sich auf Stichwahlen gegen die AfD einstellen.
Gerade nochmal gut gegangen für die Genossen
In Gelsenkirchen, wo sich die sozialdemokratische Oberbürgermeisterin Karin Welge nicht abermals zur Wahl stellte, musste die bisherige Sozialdezernentin Andrea Henze ohne Amtsbonus ins Rennen gehen. Als sie in der Auszählung hauchdünn vor AfD-Mann Emmerich liegt, gibt es erstmals an diesem Abend im Ratssaal Applaus von den Genossen. Kurz nach 20 Uhr liegt Henze uneinholbar vorne, nun endlich zeigt sie sich im Ratssaal. Ihre Parteifreunde empfangen sie mit rhythmischem Klatschen. „Wir gehen mit voller Kraft in die Verlängerung“, sagt Henze mit Blick auf die bevorstehende Stichwahl gegen die AfD. Sie stehe für eine Stadt, in der die Grund- und Menschenrechte hochgehalten werden, sagt die Sozialdemokratin.
Zur Ratswahl äußert sie sich nur indirekt. Gelsenkirchen habe mit „deutlicher Mehrheit demokratische Kräfte“ gewählt. Auf der Leinwand hinter ihr liegt die AfD noch immer vorne. Erst einige Minuten später, gegen 20.14 Uhr, schiebt sich die SPD mit 0,15 Punkten Unterschied erstmals vor die AfD. Doch kurz darauf geht wieder die AfD in Führung. So geht das denkbar knapp hin und her. Als um 21.24 Uhr alles ausgezählt ist, landet die SPD bei 30,36 und die AfD bei 29,92 Prozent. Die Genossen sind erleichtert. Gerade noch mal gut gegangen, raunt ein Sozialdemokrat. Eine Genossin sagt: Jetzt gelte es, alle Kraft in die Oberbürgermeister-Stichwahl in zwei Wochen zu stecken – und wie der Fußballverein Schalke 04 am Wiederaufstieg zu arbeiten.
Stichwahlen an vielen Orten
Ihren landesweiten Sinkflug hofft die SPD durch Erfolge etwa in Remscheid und Solingen relativieren zu können, wo mit Sven Wolf und Josef Neumann zwei erfahrene SPD-Landtagsabgeordnete als Oberbürgermeisterkandidaten antraten. Ein Triumph wäre es jedoch, wenn es der SPD gelänge, mit Torsten Burmester in Köln – der mit Abstand größten Stadt Nordrhein-Westfalens – wieder einmal den Oberbürgermeister zu stellen. Diese sozialdemokratische Hoffnung zumindest besteht mit Blick auf die Auszählung weiterhin. Als mehr als drei Viertel der Wahllokale ihre Ergebnisse der Stadt mitgeteilt haben, liegt CDU-Kandidat Markus Greitemann mit rund 19 Prozent der Stimmen zunächst auf Platz drei, der Sozialdemokrat Torsten Burmester sortiert sich mit mehr als zwei Prozentpunkten Vorsprung auf dem wichtigen zweiten Platz ein. Gute Chancen auf die Stichwahl hat jedenfalls die Grüne Berivan Aymaz, die mit rund 27 Prozent an der Spitze liegt.
Je mehr Wahlergebnisse am Sonntagabend eingehen, desto deutlicher zeichnet sich ab, dass sich nicht nur in Gelsenkirchen, Solingen, Remscheid und Köln die Oberbürgermeister-Frage erst bei der Stichwahl in zwei Wochen entscheiden dürfte. In Bonn muss Katja Dörner (Grüne) gegen den nach Auszählung eines großen Teils der Stimmen einige Prozentpunkte vor ihr liegenden CDU-Kandidaten Guido Déus in die zweite Runde. Auch im Bonner Rat liegt die CDU vor den Grünen.
Ein Rückschlag für die Grünen
Vor fünf Jahren waren die Grünen mit 20 Prozent der landesweiten Stimmen die eigentlichen Gewinner, stellten anschließend in mehreren Städten die größte Fraktion. Nun müssen sie einen herben Rückschlag hinnehmen. Der ersten Hochrechnung zufolge kommen sie auf weniger als zwölf Prozent. Der Ko-Parteivorsitzende Felix Banaszak reagiert resigniert. „Ökologische, progressive Politik hat es gerade schwer“, sagt Banaszak im WDR. Für seine Partei müsse es dennoch darum gehen, Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln.
Umso wichtiger ist es für die Grünen ob des schlechten Trends, Oberbürgermeisterposten, die sie 2020 erstmals überhaupt in NRW erringen konnten, zu verteidigen – neben Bonn steht dabei Aachen mit der parteilosen, aber von den Grünen unterstützten Amtsinhaberin Sibylle Keupen im Fokus. Auch in Münster hoffen die Grünen, mit Tilman Fuchs den Oberbürgermeister stellen zu können, dort ist der beliebte CDU-Mann Markus Lewe nach eineinhalb Jahrzehnten im Amt nicht mehr angetreten. Die Zwischenergebnisse deuten darauf hin, dass es in Aachen, Bonn und Münster zu Stichwahlen zwischen CDU und Grünen kommt. Dasselbe gilt für die Landeshauptstadt Düsseldorf, wo Amtsinhaber Stephan Keller (CDU) allerdings wie erwartet weit vorne liegt.
Gut möglich, dass die Grünen im Vergleich zu 2020 bei Ratswahlen Stimmen an die Linkspartei verloren haben. Bei den vergangenen Kommunalwahlen landete die Linke bei 3,8 Prozent, nun konnte sie ihr Ergebnis laut Hochrechnung auf mehr als fünf Prozent verbessern. Bei der FDP gilt das Gegenteil: Von 5,6 Prozent geht es wohl runter auf weniger als vier, es wäre das schlechteste Ergebnis aller Zeiten bei Kommunalwahlen in NRW. Das Kräfteverhältnis beider Parteien hat sich in den Städten und Gemeinden am Sonntag gedreht – zugunsten der Linkspartei.
Wenn die Bundestagswahl wegen des Scheiterns der Ampel nicht auf Februar vorgezogen worden wäre, hätte sie just an diesem Sonntag stattgefunden. Die nordrhein-westfälischen Kommunalwahlen hätten dann im Windschatten der Bundestagswahl stattgefunden. So aber werden sie als erster Stimmungstest für die schwarz-rote Bundesregierung von Kanzler Friedrich Merz (CDU) wahrgenommen. Zu Ende ist das Ringen zwischen Rhein und Weser an diesem 14. September noch nicht. Für CDU, SPD, AfD und Grüne geht es zu den an vielen Orten notwendigen Stichwahlen weiter. Überall dort, wo kein Kandidat eine absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen konnte, wird der Landrats-, Bürgermeister- und Oberbürgermeisterwahlkampf noch zwei Wochen lang fortgesetzt.


